Inhaltsangabe
Missverständnisse im Alltag – woher rühren sie und was kann man gegen sie machen? Dazu gibt es eine wunderbare Theorie von Friedemann Schulz von Thun, einem deutschen Psychologen: Das Vier-Seiten-Modell oder die vier Seiten einer Nachricht. Dieses Modell hilft uns, Missverständnissen vorzubeugen.
Hinweis: Möchtest Du mehr über mögliche Gründe für Missverständnisse erfahren, dann schaue Dir die Video-Lektion „Warum ist die Alltagskommunikation so schwer?“ aus dem Online-Kurs „Rhetorik für Fortgeschrittene: Professionelle Kommunikation” an:
Die vier Seiten einer Nachricht
Friedemann Schulz von Thun sagt, dass jede Nachricht vier Seiten hat. Jede Nachricht hat einen Sachebene. Jede Nachricht hat eine Beziehungsebene. Jede Nachricht hat einen Appell und jede Nachricht hat eine Selbstoffenbarungsebene.
Das klingt jetzt ein bisschen kompliziert, aber letztlich ist uns auch allen aus dem Alltag bekannt, dass es immer die Sachebene und die Beziehungsebene gibt. Wir sagen Dinge, aber gleichzeitig schwingt immer eine Beziehung zu meinem Gesprächspartner mit. Aber Schulz von Thun erweitert das noch einmal um Ebene drei und vier. Er sagt nämlich, immer wenn wir eine Aussage tätigen, ist darin auch ein Appell und eine Selbstoffenbarung enthalten.
Beispiel: Typisches Missverständnis
Ich mache das einmal an einem Beispiel deutlich, das auch Friedemann Schulz von Thun nutzt. In seinem Buch „Miteinander reden“ benutzt er die Aussage: Stell Dir vor, zwei Personen fahren im Auto. Ehefrau und Ehemann. Diesmal ist die Ehefrau am Steuer und der Mann sagt zur Frau:
„Du, da vorne ist grün.”
Die Aussage macht klar: Der Mann möchte der Frau mitteilen, dass da vorne die Ampel auf Grün gesprungen ist.
Die Beziehungsebene hängt natürlich sehr davon ab, mit welcher Intonation, mit welcher Stimme der Mann das zu seiner Frau gesagt hat, denn in der Intonation schwingt immer eine Emotion und ein Beziehungsaspekt mit. Und man kann sich das sehr lakonisch und emotional vorstellen oder ein bisschen genervt oder sogar belehrend. Da schwingt natürlich auch eine bestimmte Beziehung zu ihr mit. Wie steht der Mann zu seiner Ehefrau? In diesem Moment oder generell beim Autofahren.
Weitere Ebenen
So viel also zur Sachebene und zur Beziehungsebene. Das ist uns alles klar. Aber die dritte und vierte Ebene waren für mich absolut neu, als ich das damals gelesen habe. In jeder Aussage steht auch: Was möchte ich vom anderen oder in unserem Beispiel was möchte der Mann von seiner Ehefrau? Was will er ihr sagen, was will er, dass sie tut? Und natürlich ist die Funktion in diesem Beispiel:
„Hey, Du kannst losfahren. Warum fährst Du noch nicht los? Du bist zu langsam, Du reagierst zu langsam!”
Und dieser Appell schwingt immer mit, bei jeder Aussage von Deiner Mutter, Deines Kollegen, Deines Chefs.
Selbst wenn der Mensch keine konkrete Aktion, also keine Handlungsaufforderung gibt, schwingen immer auch die Dinge mit, die er will. Bei Schulz von Thun:
„Wir offenbaren immer auch etwas über uns, auch wenn wir etwas über den anderen sagen.”
Und Du kannst Dir ganz leicht vorstellen, die Selbstaussage, die der Mann offenbart, kann zum Beispiel darin bestehen, dass er sagt:
„Ich habe bemerkt, dass da vorne grün ist. (Und Du nicht! Ich fahre viel aufmerksamer Auto! Wenn ich fahren würde, wären wir viel schneller am Ziel, denn ich bin ein besserer Autofahrer!)”
Das heißt, die Selbstaussage schwingt immer mit, egal ob wir wollen oder nicht wollen. Wir verraten also immer etwas über uns.
Woher rühren die Missverständnisse im Alltag?
Menschen wollen sich gar nicht verstehen, Menschen finden sich nicht sympathisch, Menschen hören einander nicht zu, Menschen benutzen unterschiedliche Begriffe – aber das ist das Interessante! Friedemann Schulz von Thun sagt, die Missverständnisse rühren auch daher, dass wir mit einem anderen Ohr hören, als dem mit dem die Botschaft eigentlich gesendet wurde.
Der Mann meinte das vielleicht ganz sachlich, aber die Frau hört daraus auf der Beziehungsebene, dass der Mann schlecht zu ihr steht, sie nicht als Autofahrerin respektiert oder auf der Appellebene ganz indirekt sagt:
„Ja, ich sollte schneller fahren, ich sollte aufmerksamer sein.”
Und diese Beziehungsebene oder der Appell, mit dem die Frau das hört, ist ein anderer, als der mit dem die Botschaft vom Mann auf der Sachebene gesendet wurde. Das ist nur ein Beispiel. Es kann auch sein, dass der Mann das als Selbstoffenbarung gemeint hat, aber die Frau das wiederum auf der Appell- oder Beziehungsebene interpretiert. Und das ist etwas, wo dann die Konflikte entstehen.
Die vier Ohren
Schulz von Thun schreibt dann in seinem Buch „Miteinander reden„, dass bei einigen Menschen ein bestimmtes Ohr überrepräsentiert ist. Er schreibt, ein Ohr ist mit der Zeit besonders groß geworden und ein anderes Ohr ist vielleicht besonders klein und unterbewusst unterrepräsentiert. Das heißt also, wir laufen mit vier Ohren durch die Gegend – nicht mit zwei, sondern mit vier. Und diese vier Ohren sind beim Menschen unterschiedlich groß.
Es gibt Menschen, die haben ein übergroßes „Sachohr“. Das heißt, egal was passiert, sie hören einfach nur die Sachinformationen raus. Klassische Situation: Mann und Frau sitzen wiederum im Auto und die Frau fragt den Mann: „Du, musst Du eigentlich aufs Klo?“ Und der Mann antwortet: „Nee, muss ich nicht.“ Und er fährt in den nächsten hundert Metern an einer Raststätte vorbei.
Natürlich meinte die Frau etwas anderes, als sie gefragt hat. Sie wollte selbst offenbaren, dass sie eigentlich aufs Klo sollte und appellierte an ihn, dass er doch an der nächsten Ausfahrt raus fährt, aber der Mann mit dem übergroßen „Sachohr“ hört das gar nicht raus. Er hört einfach die Frage und antwortete sachlich korrekt darauf. Ein klassisches Missverständnis. Der Appell ist formuliert über das Appellohr und der Mensch, der zuhört, hört das mit seinem (Sach-)Ohr.
Oder es gibt die selbsternannten Psychologen, die versuchen, die Selbstoffenbarung von anderen immer zu interpretieren. Und bei denen ist das „Selbstoffenbarungsohr“ so extrem groß und sie interpretieren und psychologisieren. Die Sachebene hören sie gar nicht. Diese Menschen haben Schwierigkeiten, denn sie wollen immer herausfinden, wie jemand zu ihnen steht. Sie machen sich immer Sorgen darüber, was die anderen über sie denken und achten zu wenig darauf, was der andere eigentlich von ihnen will, weil sie zu sehr mit der Beziehung zu anderen beschäftigt sind, indem sie den anderen zum Beispiel sehr gut gefallen wollen.
Wie kann man nun Missverständnissen vorbeugen?
Das heißt also die Grundfrage des Verstehens sollte sein: Welche Botschaft auf welcher Ebene steht bei den anderen im Vordergrund? Will der andere mir jetzt einen Sachaspekt mitteilen, will der andere mir ein Beziehungsaspekt senden, will der andere mir in einen Appellaspekt mitteilen oder eine Selbstaussage offenbaren?
Das ist die Grundfrage des Verstehens nach Friedemann Schulz von Thun. Um das im Alltag ein bisschen leichter zu machen, habe ich mit der Zeit festgestellt, dass es extrem viel hilft, wie diese Botschaft formuliert ist. Das heißt also, wenn sie relativ emotionslos ist, dann spricht das dafür, dass es eine Aussage auf der Sachebene ist.
Wenn man mich dabei anschaut und ganz viele Emotionen mitschwingen, dann ist es ein ganz großer Hinweis darauf, dass es ein Beziehungs- oder ein Appellaspekt ist. Das ist manchmal etwas schwieriger zu unterscheiden. Bei der Selbstoffenbarung tendieren Menschen dazu, einfach länger zu sprechen und wenn ein Mensch länger spricht und ein Mitteilungsbedürfnis hat, dann ist das häufig ein Hinweis darauf, dass bei ihm im Vordergrund die Aussage steht, er möchte etwas über sich erzählen. Er möchte etwas offenbaren.
Das ist nur eine ungefähre Daumenregel, die Dir hoffentlich hilft. Natürlich erklärt diese Theorie nicht komplett alle Missverständnisse. Es gibt, wie angedeutet, Missverständnisse, wenn Menschen sich nicht genau zuhören. Es gibt Missverständnisse, wenn Menschen sich nicht zuhören wollen oder können. Es gibt Missverständnisse, weil Menschen unterschiedliche Definitionen benutzen.
Aber ich finde, dass wenn Menschen sich zuhören und wirklich jedes Wort verstehen wollen, zum Beispiel wenn sie am Telefon miteinander sprechen oder direkt, ist das Modell von Schulz von Thun der vier Seiten einer Nachricht unglaublich hilfreich, um überhaupt eine Klarheit darüber zu bekommen, dass wir in Wirklichkeit mit einer Intention sprechen und der andere uns mit vier Ohren zuhört.
Die vier Zungen
Ich erweitere dieses Bild mit den vier Ohren jetzt noch einmal um die vier Zungen. Ich weiß, es ist ein sehr komisches Sprachbild, aber es verdeutlicht doch den Punkt, dass wir bei jeder Nachricht, die wir senden, mit einer der vier Zungen sprechen. Und dass der andere diese mit vier Ohren hört. Und manchmal sind wir nicht auf einer Ebene und wir sprechen aneinander vorbei.
Was denkst Du, welches Ohr ist bei Dir besonders groß? Mit welchem Ohr hörst Du momentan noch viel zu wenig? Welches Ohr ist bei Dir unterentwickelt und ziemlich klein? Idealerweise, und das ist klar, sind alle vier Ohren ungefähr gleich groß, damit Du flexibel bist und jede Botschaft bei Dir ankommt.
Drei Übungsbeispiele
Ich werde jetzt drei Situationen vorgeben und Deine Aufgabe liegt darin, dass Du diese drei Beispiele in Ohren einordnest und sagst, was bei dieser Aussage der Aspekt der Beziehung, was der Appellaspekt und was der Selbstoffenbarungsaspekt ist.
- Die Frau sagt zu ihrem Mann: „Wir sollten mal wieder ausgehen!“
- Mann sagt zu seiner Frau: „Schatz, soll ich besser einparken?“
- Ein Jüngling sagt zu einem Fräulein oder moderner formuliert ein Typ sagt zu einem Mädel: „Du hast echt schöne Augen.“
Viel Erfolg!
Autor: Wladislaw Jachtchenko